Copyright 1995 Sueddeutscher Verlag GmbH Sueddeutsche Zeitung February 8, 1995 SECTION: SEITE 4 / MEINUNGSSEITE LENGTH: 627 words HEADLINE: Die EU wagt einen fatalen Kompromiss. Mit ihrem Zugestaendnis an Athen setzen die Aussenminister die Integration aufs Spiel BYLINE: Von Winfried Muenster BODY: Bruessel, 7. Februar - Die EU, vormals EG, hat seit 30 Jahren so etwas wie eine wirtschaftliche und politische Sorgepflicht fuer die Tuerkei, beurkundet im Assoziationsvertrag von 1963. In ihm wurde dem kleinasiatischen Land sogar die Mitgliedschaft in Aussicht gestellt. Nachgekommen sind die Europaeer ihrer selbstauferlegten Pflicht mehr schlecht als recht. Sie empfanden es als angenehm, die Aufgabe, die Nachfahren der Osmanen im westlichen Lager zu halten, der NATO ueberlassen zu koennen. Aber nun ist die Gemeinschaft unausweichlich gefordert, und prompt windet sie sich unter den Qualen, die ihr die innere Zerrissenheit bereitet. Frankreichs Aussenminister Alain Juppe haette wohl nie gedacht, dass er die wichtigsten Wochen seiner Geschaeftsfuehrung im Bruesseler Ministerrat mit der Suche nach einem Kompromiss zwischen den verfehdeten Buendnispartnern in Athen und Ankara ausfuellen muss. Die Tuerken hatten sich zwar schon lange damit abgefunden, dass sich die christliche EU nicht dazu durchringen kann, ein islamisches Land aufzunehmen. Aber die Abkommen zwischen Bruessel und Osteuropa zur Vorbereitung der Mitgliedschaft mussten die Tuerken doch verbittern, zumal da zu den Beguenstigten auch die Bulgaren gehoeren, die einmal ins Osmanische Reich einverleibt waren. Schon deshalb also gebot aller Anstand, Ankara etwas Besonderes zu offerieren, doch natuerlich ging es in erster Linie um das strategische Kalkuel, sich in den Unruheregionen jenseits des Bosporus gerade jetzt um eine gefestigte und befreundete Tuerkei zu bemuehen. Amerikas Mahnungen an die fuer diese Aufgabe praedestinierte EU werden seit einem Jahr immer dringlicher, und spaetestens seit dem vergangenen Herbst ist selbst dem Europaeischen Parlament klar, dass die Menschenrechtsverletzungen in Kleinasien die Gemeinschaft nicht ihrer Fuersorge fuer den Verbuendeten entheben. Der Tuerkei eine Zollunion (die mehr ist als nur eine Freihandelszone) anzubieten, war mithin schlicht das Gegebene. Doch in der Gemeinschaft bleibt nicht einmal die reine Vernunft von Streit, Veto und Erpressung verschont. Griechenland hat sich sein gewohntes Recht, in Bruessel jegliche die Tuerkei betreffende Entscheidung verhindern zu koennen, am Wochenanfang mit der Zusage abkaufen lassen, dass die Gemeinschaft zeitig nach dem Ende der sogenannten Maastricht-II-Konferenz Beitrittsverhandlungen mit Cypern aufnimmt. Griechenlands Forderung sieht auf den ersten Blick plausibel aus. Der zweite enthuellt aber, dass sich die Union mit ihrem Zugestaendnis in ein schier undurchdringliches Dickicht von Problemen begeben hat. Am schwersten wiegt der Verstoss gegen die Erkenntnis, dass die Gemeinschaft vor der Reform ihrer Entscheidungsinstanzen keine neuen Mitglieder mehr aufnehmen darf. Cypern wuerde Malta mit in die EU hineinziehen. Die Mitgliedschaft der beiden Mittelmeerinseln wiederum machte jedwedes Argument zunichte, das der vorzeitigen Aufnahme Ungarns und der Tschechischen Republik entgegengesetzt wuerde. Bekaemen diese vier Laender ihre eigenen Bruesseler Kommissare sowie die heute uebliche Stimmenzahl im Ministerrat, so wuerden diese beiden EU-Institutionen wegen Kolossalitaet zu entscheidungsunfaehigen Streit- und Debattierklubs degenerieren. Die Schwelle ist schon erreicht. Griechenland fuehrt am aktuellen Thema ja vor, wie entscheidungsschwach die Gemeinschaft heute schon ist. Gewiss, Maastricht II soll die institutionelle Reform bringen, aber niemand glaubt daran, und so steht die Gemeinschaft hinterher aller Voraussicht nach schlechter da als vorher. Dauert die Konferenz mangels Erfolges endlos an, so wird Griechenland die zwischenzeitliche Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zu erzwingen suchen. Endet Maastricht II mit einem Misserfolg, so wird dennoch anschliessend erweitert. Das spaetestens waere das Ende der Integration. Mit dem indirekten Beitrittstermin, den die EU Cypern nunmehr nennt, tut sie auch der geteilten Insel selbst keinen Gefallen, denn ihre politische Neuordnung erscheint nicht erleichtert. Wie muss man sie sich vorstellen? Waere der tuerkisch besetzte Teil EU-Mitglied, das Stammland aber nicht?